Lenk- und Ruhezeiten: Notstandsklausel

Abweichung von den Lenk- und Ruhezeiten im Sinne der erweiterten Notstandsklausel gemäß Artikel 12 der VO (EG) Nr. 561/2006 in Verbindung mit der VO (EU) Nr. 2020/1054 vom 15.07.2020.

Einleitend wird angemerkt, dass zunächst das Verkehrsunternehmen die Arbeit der Fahrer so zu planen hat, einschließlich der aktuellen Verkehrslage und Staus oder auch Wartezeiten an der Laderampe, dass der Fahrer die Lenk- und Ruhezeiten nach den gesetzlichen Vorgaben einhalten kann.

Grundnorm zur Ausnahmesituation

Nach dem Erwägungsgrund Nr. 21 der Verordnung (EU) Nr. 2020/1054 vom 15.07.2020 ist es wünschenswert, dass den Fahrern die Bewältigung unvorhersehbarer Umstände erleichtert und ermöglicht wird, ihren Bestimmungsort für eine wöchentliche Ruhezeit zu erreichen. Unter solchen außergewöhnlichen Umständen sind plötzliche, unvermeidbare und nicht vorhersehbare Umstände zu verstehen, unter denen es für eine kurze Zeit unerwartet unmöglich wird, alle Bestimmungen der Verordnung einzuhalten.

Der EU-Verordnungsgeber hat somit bei besonderen, nicht planbaren Vorkommnissen die Möglichkeit geschaffen, legal von den Vorschriften über die Lenk- und Ruhezeiten im Straßenverkehr abzuweichen.

Bisherige Abweichungen von den Lenk- und Ruhezeiten

Bis 19.08.2020 war es dem Fahrpersonal gestattet, sofern die Sicherheit im Straßenverkehr nicht gefährdet wird, unter gewissen unvorhersehbaren Bedingungen, von den Lenk- und Ruhezeiten nach Artikel 12 Absatz 1 der VO (EG) Nr. 561/2006 abzuweichen.

Die unvorhersehbare Abweichung stellt darauf ab, einen geeigneten Halteplatz zu erreichen, um die Sicherheit von Personen, des Fahrzeugs oder der Ladung zu gewährleisten. Diese bislang vorhandene Regelung gilt auch nach den Neuerungen der VO (EU) Nr. 2020/1054 weiter fort.

Durch die VO (EU) Nr. 2020/1054 vom 15. Juli 2020 wurden in Artikel 12 der VO (EG) Nr. 561/2006 weitere Ausnahmen eingefügt, die es dem Fahrer unter außergewöhnlichen Umständen ermöglichen, an seinen Wohn- oder Betriebsort zurückzukehren und dort die wöchentlichen Ruhezeiten, z.B. am letzten Arbeitstag einer Woche, einzulegen.

Erweiterte Abweichungen von den Lenk- und Ruhezeiten durch das Mobilitätspaket I

Sofern die Sicherheit im Straßenverkehr nicht gefährdet wird, kann der Fahrer unter außergewöhnlichen Umständen auch von Artikel 6 Absätze 1 und 2 (tägliche und wöchentliche Lenkzeit) und von Artikel 8 Absatz 2 (tägliche Ruhezeit) abweichen, indem er die tägliche und die wöchentliche Lenkzeit um bis zu einer Stunde überschreitet, um die Betriebsstätte des Arbeitgebers oder den Wohnsitz des Fahrers zu erreichen, um eine wöchentliche Ruhezeit (reduziert oder regelmäßig) einzulegen.

Unter den gleichen Bedingungen kann der Fahrer die tägliche und die wöchentliche Lenkzeit um bis zu zwei Stunden überschreiten, sofern eine ununterbrochene Fahrtunterbrechung von 30 Minuten eingelegt wurde, die der zusätzlichen Lenkzeit zur Erreichung der Betriebsstätte des Arbeitgebers oder des Wohnsitzes des Fahrers, um dort eine regelmäßige wöchentliche Ruhezeit (keine reduzierte) einzulegen, unmittelbar vorausgeht.

Wichtig: Was sind „außergewöhnliche Umstände“?

Zu den vorgenannten Abweichungsmöglichkeiten wird klargestellt, dass die legalen Lenkzeitüberschreitungen nur zulässig sind, damit ein Fahrer aufgrund unvorhergesehener außergewöhnlicher Umstände, wie zum Beispiel bei Verkehrsunfällen, technischen Problemen, Wetterbedingungen, Überlastung des Straßennetzes, Verkehrsumleitungen, Verzögerungen an Lade-/Entladepunkten usw. an einem der oben angegebenen Orte (= nur Wohn- oder Betriebsort) die wöchentliche Ruhezeiten einlegen kann. Die Inanspruchnahme der Sonderregelung ist aber bei absehbaren Verzögerungen oder regelmäßig auftretenden Störungen nicht anwendbar. Zu diesem Ergebnis kommt auch das EuGH (Urteil vom 09.11.1995 C-235/94).

Bei Betriebsprüfungen muss durch die zuständigen Behörden recherchiert werden, ob der „Notstand“ tatsächlich nicht vorhersehbar und nicht planbar war.

Die Abweichungen der Sonderregelung von den Lenk- und Ruhezeiten muss der Fahrer spätestens bei Erreichen des Bestimmungsorts oder des geeigneten Halteplatzes handschriftlich auf dem Schaublatt des Kontrollgeräts/ Fahrtenschreibers, oder auf einem Ausdruck aus dem Kontrollgerät/Fahrtenschreiber oder dem Arbeitszeitplan dokumentieren und zur Vorlage bei den zuständigen Personen, mindestens 28 Kalendertage, mitführen.

Die handschriftlichen Aufzeichnungen hat er nach der Mitführpflicht unverzüglich beim Unternehmer abzugeben, der diese im Betrieb für mindestens 1 Jahr aufzubewahren bzw. zu archivieren hat.

Fallbeispiel

Der Fahrer „Norbert“ war am Samstag den 23.01.2021 mit einer Reisegruppe auf der Rückfahrt von der Schweiz nach Darmstadt. Auf der BAB A 5 bei Walldorf-Wiesloch wurde wegen eines schweren Verkehrsunfalls die Autobahn für 1 Stunde voll gesperrt.

Im Normalfall hätte der Fahrer „Norbert“ mit seiner Reisegruppe an diesem Samstag den Betriebsort rechtzeitig und ohne Überschreitung der Lenkzeiten erreicht, was aber wegen des Verkehrsunfalls nicht mehr möglich war.

Um eine reduzierte wöchentliche Ruhezeit von 36 Stunden am Wohnort nach Artikel 12 Unterabsatz 2 der VO (EU) Nr. 2020/1054 einzulegen, hat „Norbert“ entschieden, die tägliche Lenkzeit und wöchentliche Lenkzeit auf der Rückfahrt bis nach Darmstadt um eine Stunde auszudehnen.

Fazit

Artikel 12 der VO (EG) Nr. 561/2006 ist als absolute – nicht regelmäßige – Ausnahme zu verstehen, die es nur dem Fahrer aus eigenem Entschluss gestattet, sich bei außergewöhnlichen Umständen über die durch die VO (EG) Nr. 561/2006 gesetzten Grenzen der Lenk- und Ruhezeiten hinwegzusetzen. Nur er kann in Ausnahmesituationen entscheiden, ob es die jeweilige Situation rechtfertigt, von den Vorschriften abzuweichen. Und nur er hat dann auch die Verantwortung dafür, dass dabei die Sicherheit im Straßenverkehr nicht gefährdet wird. Von Bedeutung ist auch, dass die Lenkzeitverlängerung in allen Fällen (1 oder 2 Stunden) durch eine gleichwertige Ruhepause ausgeglichen wird, die zusammen mit einer beliebigen Ruhezeit ohne Unterbrechung bis zum Ende der dritten Woche nach der betreffenden Woche genommen werden muss.

Diese neu eingeführte „Ausgleichsregelung“ gilt im Übrigen für alle Notstandsfälle des Artikel 12 der VO (EG) Nr. 561/2006, somit also auch für die bisher beschriebenen Notfälle.

Zusätzliche Info

Eine Erweiterung des Ausnahmetatbestands auf nationale Ebene ist im Hinblick auf die arbeitszeitrechtlichen Regelungen, die Vorschrift des § 14 Arbeitszeitgesetz (ArbzG). Ein außergewöhnlicher Fall im Sinne des § 14 Abs. 1 Arbeitszeitgesetz (ArbZG) ist ein besonderes, nicht vorhersehbares Ereignis, welches unabhängig vom Willen des Betroffenen eingetreten ist und dessen Folgen nicht auf andere Weise als durch Abweichung von den regulären Arbeitszeitvorschriften zu beseitigen ist.

Beispiel: Überschreiten der täglichen bzw. wöchentlichen Lenkzeit um 1 Stunde
Beispiel: Überschreiten der täglichen bzw. wöchentlichen Lenkzeit um 2 Stunden

Autoren: Willy Dittmann / Jörg Eiden

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