1. Einleitung
Bei Überprüfungen der Einhaltung fahrpersonalrechtlicher Vorschriften kommt es nicht selten zur Ausweisung von Verstößen. Dabei werden beispielsweise Überschreitungen der täglichen oder wöchentlichen Lenkzeit, die zu späte Einlegung von Fahrtunterbrechungen oder von täglichen bzw. wöchentlichen Ruhezeiten in den Auswertsystemen angezeigt.
Doch liegt hier tatsächlich immer ein Verstoß vor?
Der Gesetzgeber hat bereits bei der Schaffung der rechtlichen Normen erkannt, dass es im Alltag nicht selten zu besonderen, unvermeidbaren Situationen kommen kann, die trotz gewissenhafter Planungen und Vorbereitungen unvorhersehbar sind. In solchen Fällen kann es zur Anwendung der sogenannten „Notstandsklausel“ kommen.
2. Beispiele
Beispielhafte Gründe für eine unvorhersehbare Störung:
- Unfall auf der geplanten Route
- Tagesbaustelle (Negativabgrenzung zu sogenannten „Dauerbaustellen“)
- wetterbedingte Ursachen (z.B. Fähr- bzw. Flugumleitungen wegen Sturmwarnungen, Drohnensichtungen, gesperrte Straßen nach Windbruch, o.ä.)
- Sperrung/Evakuierung nach Bombenfund
- Verletzung oder Krankheit eines Fahrgastes (z.B. Fußbruch – Feststellung Transportfähigkeit, dementer Fahrgast findet Fahrzeug nicht)
- Technische Probleme (z.B. Ausfall der Kühlanlage des Gütertransportfahrzeuges bzw. der Klimaanlage im Reisebus – Reparatur in Fachwerkstatt – Abweichen von ursprünglich geplanter Route).
3. Rechtsgrundlagen
3.1 Artikel 12 Absatz 1 VO (EG) Nr. 561/2006
Bereits in seiner Ursprungsfassung (die auch heute noch Gültigkeit besitzt) wird angeführt:
„Sofern die Sicherheit im Straßenverkehr nicht gefährdet wird, kann der Fahrer von den Artikeln 6 bis 9 abweichen, um einen geeigneten Halteplatz zu erreichen, soweit dies erforderlich ist, um die Sicherheit von Personen, des Fahrzeugs oder seiner Ladung zu gewährleisten“.
Obwohl hier nur die Suche nach einem geeigneten Halteplatz angesprochen wird, kann diese „Notstandsklausel“ nach herrschender Meinung auch bei den oben genannten Beispielen zum Tragen kommen.
Eine wichtige Aussage zum Handling der „Notstandsklausel“ findet sich in Artikel 12 Absatz 4 der VO (EG) Nr. 561/2006: „Der Fahrer hat Art und Grund dieser Abweichung spätestens bei Erreichen des geeigneten Halteplatzes handschriftlich auf dem Schaublatt des Kotrollgeräts oder einem Ausdruck aus dem Kontrollgerät oder im Arbeitszeitplan zu vermerken“.
Der von der „Notstandsklausel“ betroffene Fahrer hat also eine Dokumentation vorzunehmen, aus der sich die Gründe für die Abweichung ergeben (= Dokumentationspflicht).
Diese Aufzeichnungen sollten vom Fahrer – im Hinblick auf mögliche Straßenkontrollen – für den Zeitraum von 1 + 56 Kalendertagen mitgeführt werden. Im sich daran anschließenden Zeitraum sollte – im Hinblick auf eine mögliche Betriebskontrolle – eine Archivierung im Unternehmen erfolgen.
Beispiel für eine gute Dokumentation:


Anmerkung:
Insbesondere zur Vermeidung von sprachlichen Ungereimtheiten im internationalen Verkehr ist auf diesen Ausdrucken folgende handschriftliche Ergänzung sinnvoll: „Artikel 12, VO (EG) Nr. 561/2006“.
Daraus sollte jeder Kontrolleur einen Zusammenhang zur Notstandsklausel erkennen können.
3.2 Exkurs Arbeitszeitrecht:
Kommt es zu einer der beschriebenen Abweichungen, liegt neben einer möglichen fahrpersonalrechtlichen Übertretung oftmals auch ein Verstoß gegen die arbeitszeitrechtlichen Bestimmungen in Deutschland vor.
Ohne an dieser Stelle die Konkurrenzen bzw. Spezialitäten der betroffenen Rechtsnormen näher zu beleuchten, kann bereits an dieser Stelle angeführt werden, dass auch in § 14 Arbeitszeitgesetz (deutsche Fassung) eine sogenannte „Notstandsklausel“ verankert ist.
„(1) Von den §§ 3 bis 5, 6 Abs. 2, §§ 7, 9 bis 11 darf abgewichen werden bei vorübergehenden Arbeiten in Notfällen und in außergewöhnlichen Fällen, die unabhängig vom Willen der Betroffenen eintreten und deren Folgen nicht auf andere Weise zu beseitigen sind, besonders wenn Rohstoffe oder Lebensmittel zu verderben oder Arbeitsergebnisse zu mißlingen drohen.
(2) Von den §§ 3 bis 5, 6 Abs. 2, §§ 7, 11 Abs. 1 bis 3 und § 12 darf ferner abgewichen werden,
1. wenn eine verhältnismäßig geringe Zahl von Arbeitnehmern vorübergehend mit Arbeiten beschäftigt wird, deren Nichterledigung das Ergebnis der Arbeiten gefährden oder einen unverhältnismäßigen Schaden zur Folge haben würden,
2. bei Forschung und Lehre, bei unaufschiebbaren Vor- und Abschlußarbeiten sowie bei unaufschiebbaren Arbeiten zur Behandlung, Pflege und Betreuung von Personen oder zur Behandlung und Pflege von Tieren an einzelnen Tagen, wenn dem Arbeitgeber andere Vorkehrungen nicht zugemutet werden können.
(3) Wird von den Befugnissen nach Absatz 1 oder 2 Gebrauch gemacht, darf die Arbeitszeit 48 Stunden wöchentlich im Durchschnitt von sechs Kalendermonaten oder 24 Wochen nicht überschreiten“.
In der nächsten Ausgabe der BERUFSKRAFTFAHRER-Zeitung wird auf die durch das Mobilitätspaket eingeführten Erweiterungen der Notstandsklausel sowie auf damit verbundene Ausgleichspflichten eingegangen.
Jörg Eiden / Sven Kilian / Willy Dittmann



